Einmal rund um die Charlottenlust

Vorwerk – Hühnerfarm – Fasanenzucht – Jodlerstübchen


Einer der schönsten Blicke auf Wernigerode bietet sich von der Charlottenlust herab. (Foto: Ackermann)

Wenn wir freie Sicht von den Harzbergen haben, können wir in nördlicher Richtung ein grünes Waldgebiet in einer Feldf lur sehen. Es ist die Charlottenlust, 267 m ü. NN hoch gelegen. Die Dörfer Veckenstedt, Minsleben und Schmatzfeld umringen sie wie an einer Perlenschnur. Östlich, etwas vorgelagert erhebt sich die ehemalige Müllkippe aus DDR-Zeiten. Unter ihr liegen Tonnen von Asche und Müll verdeckt. Heute ist sie aufgeräumt, begrünt und fügt sich in das Vorharzbild ein.

Am Fuße dieser Deponie steht seit vielen Jahren ein recht gut erhaltenes Baudenkmal. Der aus vielen Feldsteinen erbaute „Alte Turm“ mit Rundfenstern diente im 14./15. Jahrhundert der Landwehr. Als Wachturm half er den hier ansässigen Bauern, geplante Viehdiebstähle rechtzeitig zu erkennen und sich davor zu schützen.

Ein ganz anderes Denkmal steht etwas westlich in der Kaiserbreite ebenfalls vor der Charlottenlust inmitten der Feldflur: Unter einer stattlichen Linde kann man hier einen Findling bestaunen. Man wünschte sich, die Linde oder der Stein könnten erzählen. Da erkennen wir eine Inschrift. Der Stein wurde im Gedenken an eine Kaiserjagd 1877 zu Ehren Kaiser Wilhelms gesetzt, der hier teilnahm und einen Hirsch erlegte. Damals gab es in der Feldflur also nicht nur Feldhasen, Fasane, Rebhühner oder auch Rehe, sondern sogar Hirsche.

Wie anders sieht es heute, nach 137 Jahren, aus! Hier einen Feldhasen zu Gesicht zu bekommen, ist ein Erlebnis. Fasane und Rebhühner können wir noch im Wildpark erleben. Wer Glück hat, kann in der Feldflur Rehe beobachten. In Zeiten der aktiven Müllverkipper kreisten hier Bussarde, Milane, ja sogar Möven. Sie ernährten sich von den reichen Abfällen im Hausmüll. Die Milane kreisen zum Glück auch heute majestätisch am Himmel, wenn auch nicht mehr so zahlreich.

Eine gepflasterte Straße führt fast mittig in Nord-Süd-Richtung durch das Waldgebiet der Charlottenlust. Betreten wir diesen Weg, so empfängt uns ein schöner Mischwald mit Kiefern, Eichen und Buchen.

Nach kurzer Strecke sehen wir westlich ein Anwesen. Hier ließ Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode zwischen 1720 und1733 nach letzten Waldrodungen das Vorwerk „Charlottenlust“ errichten. Als Namensgeberin fungierte seine Ehefrau Sophie Charlotte. Dieses Vorwerk verwaltete ein Hofmeyer mit zwei Knechten und einer Magd.

Da der Boden dieser Gegend aus Meeresablagerungen entstand, sind die Äcker rund um die „Lust“ nicht gerade sehr fruchtbar. So konzentrierte man sich zunächst auf die Schafzucht, ehe man im 19. Jahrhundert zur Fasanenzucht überging. Ein Fasanenzüchter namens Bruns betreute die Fasanerie, und er pflanzte auch einige Baumgruppen an, die bis heute erhalten sind.

Später, so die Geschichte, wollte Graf Botho die Charlottenlust für 435 000 Mark verkaufen. Es gab zwar Interessenten, aber der Preis war ihnen zu hoch. So übernahm 1935 eine Familie Pieper das Wohngrundstück für 40 Mark Jahrespacht.

Im Jahr 1945 wurde das Fürstenhaus enteignet. Im Rahmen der Bodenreform bekam Familie Pieper der Hof übertragen und bewirtschaftete ihn bis 1962. Gleich im Anschluß siedelte sich hier eine Hühnerfarm an, der 1967 schon wieder das Ende beschieden war; eine Seuche vernichtete alle Tiere. Danach lag das Grundstück unbewirtschaftet und drohte zu verkommen.


Die Wirtsleute Christina und Heinz-Dieter Linde haben inzwischen ihr beliebtes Lokal an Tochter Birgit abgegeben. (Foto: Oehlmann)

1974 bemühte sich die Familie Linde aus Wernigerode um dieses Grundstück und konnte es 1975 von der Stadt Wernigerode kaufen.

Eine schwere Arbeit begann für Familie Linde. So mußten z. B. 1 500 m Erdkabel verlegt werden, was mit Hilfe von Pferden geschah. Wie Familie Linde berichtet, gewährte ihnen Bürgermeister Martin Kilian gute Unterstützung, so daß sie 1976 in das Haus einziehen konnten.

Seit dieser Zeit haben Lindes nicht gerastet, um dieses heruntergekommene Grundstück wieder in einen bewohnbaren Zustand zu bringen und ein Schmuckstück daraus zu machen. Dabei hatten alle Familienmitglieder ihren Anteil und leisteten eine fleißige Arbeit. Neben neuen Stallungen und den Arbeiten am Haus mußte ein neuer Brunnen gebohrt werden, da der alte verseucht war. Dieser war zwar saniert worden, kostete aber zuviel Geld in der Erhaltung. Inzwischen war auch eine Gaststube entstanden, die als Tagescafé betrieben wird. Bei selbstgebackenem Kuchen und gutem Kaffee fühlen sich viele Wernigeröder hier sehr wohl. Für Kinder ist ein Streichelzoo eingerichtet, und sie können auf Ponys reiten.

2010 vollzog sich auf der „Lust“ ein Generationswechsel. Tochter Birgit, mehrfache Jodlermeisterin, übernahm mit ihrem Mann die Gaststätte, die seitdem den Namen „Biggis Jodlerstübchen“ trägt. Wer Familienfeiern plant, findet hier eine gute Adresse.

Mit viel Fleiß hat Familie Linde aus dem einstigen fürstlichen Vorwerk nicht nur für sich ein schönes Zuhause errichtet, sondern die Charlottenlust am Nordrand unserer Stadt zu einer gemütlichen Oase für Einwohner und Gäste unserer Stadt werden lassen.

Klaus-W. Oehlmann
Neue Wernigeröder Zeitung 14/2015


...bezaubernd ist aber auch der Blick vom Rundweg der „Lust“ auf das Harzgebirge. (Foto: Ackermann)